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Die rechte Zeit der Austerität

Austerität ist die Bezeichnung für eine Finanzpolitik, die angesichts einer als zu hoch empfundenen Staatsverschuldung eine langfristige Konsolidierung des Staatshaushaltes durch Ausgabenkürzungen erreichen möchte. Die Verwendung des Austeritätsbegriffs in politischen Kontexten hat in keynesianischen und « linken » Denkschulen immer auch den performativen Sinn einer Kritik. Kritisiert wird, dass die Kürzungen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ungerecht seien, weil sie die ärmeren Schichten treffen, und dass Austeritätspolitik politische Risiken für parlamentarische Demokratien berge. Der Vorwurf der Ungerechtigkeit und die Warnung vor Risiken scheinen dann begründet, wenn in einer schweren konjunkturellen Rezession Austerität verordnet wird. Noch prekärer wird die Mischung aus Rezession und Austerität, wenn eine Austeritätspolitik einzelnen Nationalstaaten von transnationalen Akteuren (EU-Kommission, « Troika ») verordnet wird. Austerität erscheint dann als fremdbestimmtes Diktat, das Verarmung verordnet. Es verwundert daher nicht, dass sich die « Linke » scharf gegen die Sparprogramme in Südeuropa positioniert hat. Demgegenüber möchte ich ein systematisches Argument entwickeln, warum gerade der politisch erfolgreiche Keynesianismus der vergangenen Jahrzehnte zu einer für Keynesianer dilemmatischen Situation führen musste, einer Situation nämlich, in der zugleich Austerität und « deficit spending » geboten sind. Dieses Argument stellt den beredten Warnungen vor Austerität eine andere Perspektive entgegen, aus der wirtschaftspolitische Schlüsse allerdings weniger leicht zu ziehen sind.

John Maynard Keynes setzt in seiner Theorie voraus, dass konjunkturelle Zyklen (« boom » und « slump ») in kapitalistischen Marktgesellschaften die Regel sind. Nach Keynes soll deshalb eine moderne staatliche Finanz- und Wirtschaftspolitik antizyklisch ausgerichtet sein. Bei schlechter Konjunktur, negativen Wachstumsraten des BIP und drohender Rezession sollte der Staat schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme verabschieden (« deficit spending »), um den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu dämpfen und die Massenkaufkraft zu stabilisieren. Daher sollten in einer Rezession staatliche Transfers nicht gesenkt werden. Die Lehre vom « deficit spending » bleibt aber eine Halbwahrheit, wenn man die andere, hierzu komplementäre Seite antizyklischen Handelns unterschlägt. Bei guter Konjunkturlage sollte ebenfalls antizyklisch gehandelt werden. Im « Boom » sollten für Keynes die Staatsschulden getilgt, Steuern erhöht, die Nachfrage gedrosselt, die Inflation bekämpft und so die kulturellen Exzesse des Booms unterbunden werden. Wer diese Forderung nach Austerität im Boom unterschlägt, verfehlt die Theorie von Keynes insgesamt. 

Der halbierte Keynes

Der wirtschaftspolitische Siegeszug des Keynesianismus in den hochkonjunkturellen Perioden der Nachkriegszeit, die einen geschichtlich präzedenzlosen Ausbau des Wohlfahrtsstaates mit sich brachten, ging einher mit einer Verstümmelung von Keynes’ komplementär-antizyklischem Schema. Viele Politiker übernahmen von Keynes zwar die Botschaft, wonach die Aufnahme von Staatsschulden volkswirtschaftlich gerechtfertigt sei, halbierten aber den komplementären Zusammenhang von « deficit spending within slump » und « austerity within boom ». Aus Keynes antizyklischer Theorie wurde die Praxis dauerhafter Neuverschuldung, durch die Gegenwartsforderungen erfüllt und 
Probleme in die Zukunft verschoben wurden.

Der Schuldendienst entwickelte sich in allen westlichen Industriestaaten zu einem der größten Haushaltsposten. Dadurch sank der Anteil am Budget, der politisch frei verfügbar ist, ebenfalls in allen Industriestaaten kontinuierlich. Gerechtfertigt wurde das kontinuierliche « deficit spending » erstens mit Verweis auf die Staatsschuldenquote, die bei hohen Wachstumsraten sogar sinken konnte, und zweitens mit der Unwahrscheinlichkeit von Staatsbankrotten, da Staaten über Steuerpolitik auf Einkommen und Vermögen ihrer Bürger zugreifen können, sofern sie über eine funktionierende Fiskalbürokratie verfügen und Ausweichstrategien verhindern können. Beide Rechtfertigungen sind zweifelhaft geworden. Vielmehr ist der Staatsbankrott durch den « Fall Griechenland » von einem archaischen Gespenst zu einer realen Möglichkeit in der EU geworden. 

Die nun eingetretene Situation einer Rezession bei hoher Staatsverschuldung ist für Keynesianer aporetisch bzw. dilemmatisch, da in einer solchen Situation zugleich die Zeit für « deficit spending » und für Austerität wäre, aber beides zusammen nicht geht. Die Verbindung von Rezession und Austerität erhöht die Arbeitslosigkeit und lässt die Staatsschulden kurzfristig weiter ansteigen, was in der Bevölkerung das Gefühl der Vergeblichkeit hervorruft. Weil « deficit spending » auf Dauer gestellt wurde, droht jetzt eine lange Phase der Austerität. Die unterlassene Austerität der Vergangenheit rächt sich also in unserer Gegenwart. In solchen dilemmatischen Situationen hat die Kritik am 
Krisenmanagement leichtes Spiel. « Austerität » wird daher gegenwärtig zum polemischen Kampfbegriff, und die Versuche der Haushaltskonsolidierung gelten als Diktate des (angeblich neoliberalen) « Merkel-Europa ». 

Die Vermögensabgabe ist der Lackmustest

Die Ratlosigkeit der echten Keynesianer angesichts des volkswirtschaftlichen Dilemmas und das « muddling through » der EU-Bürokratie spielen all denen in die Hände, die nach einer nochmaligen Radikalisierung des « halbierten » Keynes, d. h. nach Konjunkturprogrammen, Ausweitung der öffentlichen Dienste und nach dauerhaften Transfers in den Süden Europas rufen und gleichzeitig implizit mit den normativen Voraussetzungen von Keynes brechen, nämlich der Verlässlichkeit des staatlichen Schuldendienstes. Wer nämlich in der jetzigen Situation kurzfristig für massive staatliche Konjunkturprogramme, mittelfristig für den Ausbau der Wohlfahrtsstaaten in der EU (« soziales Europa ») und längerfristig für ein Degrowth-Szenario eintritt (und über einen Taschenrechner verfügt), der muss wissen, dass er sich von der normativen Institution eines verlässlichen staatlichen Schuldendienstes und anderer Garantien verabschieden muss. Diese Strategie mündet zwangsläufig in diverse Kombinationen aus « drop-the-dept »-Forderungen, Substanzbesteuerung und Inflationierung. Die Partei von Bündnis 90/Die Grünen sollte deutlichen Abstand von derartigen Strategien halten.

Wenn man hingegen an der normativen Voraussetzung eines verlässlichen Schuldendienstes festhält und die Diagnose einer dilemmatischen Situation für plausibel hält, muss man Optionen ins Auge fassen, die die volkswirtschaftlichen Bedingungen von vollständigem und dauerhaftem Keynesianismus wieder herstellen. Es wäre (auch unter der optimistischen Annahme eines « ergrünten » Kapitalismus) wünschenswert, einen Weg in ein langfristig funktionierendes antizyklisches Konjunkturregime zu finden. Die empiristische These, wonach Austeritätspolitik keine Mehrheiten in Massendemokratien finden werde, muss durch den normativen Konsens der Bürgerschaft abgelöst werden, dass ein (schwieriger) Weg zurück zum « ganzen Keynes » richtig wäre. 

Aber ist eine Sanierung der Staatshaushalte am Ende der Ära des « halbierten Keynes » und am Beginn einer Postwachstumsgesellschaft überhaupt noch möglich? Als hartnäckiger Optimist glaube ich an eine solche Möglichkeit. Die Partei der Grünen könnte klug an Bedingungen arbeiten, unter denen ein nichthalbierter Keynesianismus wieder möglich wäre. Die einmalige Vermögensabgabe könnte ein Lackmustest auf diese Politik sein. Bei allen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Vermögensabgabe kann man argumentieren, dass eine solche Abgabe unter strikter (und nicht verhandelbarer) Zweckbindung an eine konsequente Austeritätspolitik (Tilgung der deutschen Staatsschulden und Beteiligung an einem umfassenden Austeritätsplan für die Eurozone) am ehesten zu rechtfertigen wäre. Die « linke » Forderung nach Substanzbesteuerung würde an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie mit der « konservativen » Einsicht einherginge, dass die rechte Zeit für (vernünftige) Austerität gekommen ist. Die Generation, die vom halbierten Keynesianismus profitierte, sollte sich erkenntlich zeigen. Wer, wenn nicht wir, wann, wenn nicht jetzt?


Prof. Konrad Ott lehrt Philosophie und Ethik der Umwelt an der Universität Kiel. Von 2000 bis 2008 gehörte er dem Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung an.